Mittwoch, 8. Februar 1984

Was ich über das Militärgefängnis Schwedt weiß, will Andi von mir wissen. „Nichts“. Und das ist mehr als genug, kratze ich zusammen, was ich gehört habe.

Niemand spricht darüber. Aber jeder kennt einen, der einen kennt, der mal dort war. Und schweigt. Was alle Gerüchte gemeinsam haben, sind die Delikte, deretwegen selbstbewusste junge Männer in Schwedt gelandet sind und maximal eingeschüchtert oder gar gebrochen in ihre Kompanien zurückkehrten.

Körperverletzung, Diebstahl, Befehlsverweigerung, Fahnenflucht, Trunkenheit oder Ungehorsam waren die üblichen Gründe, die mit bis zu zwei Jahren NVA-Knast bestraft werden konnten.

Seit 1982 soll es möglich sein, dass Kommandeure missliebige Rekruten ohne Militärgericht für ein paar Monate nach Schwedt schicken können. Wer dort landet, ist auf Gedeih und Verderb dem Regime ausgeliefert, das absolute Macht über Dich hat:

Engste Einzelhaft. Unendlich lange Tage. Totale Fremdbestimmung. Drill bis zur Ohnmacht. Perverser Kadavergehorsam. Drecksarbeit in der Raffinerie. Kacken auf Kommando. Nicht, wenn Du musst. Sondern, wenn sie es Dir erlauben. 

Mein Problem ist meine mir angeborene Renitenz, die ich zuletzt in einem Wehrerziehungslager auf Rügen ungestraft ausreizen konnte. Dort verweigerte ich aus pazifistischen Gründen die Übung mit Waffenattrappen.

Frech wie Oskar schloss ich auch noch eine Wette ab, dass ich beim letzten Appell den Diensthabenden vor versammelter Mannschaft für seine Toleranz mit strammer Haltung küssen würde.

Die Wette brachte mir satte 50 Mark und einige Dutzend johlende Kameraden ein, die sich kaputtlachten, als ich es tatsächlich tat. Die irritierten Ausbilder waren mit der Situation völlig überfordert und ließen mir das durchgehen. 

Soweit so lustig. Bei der Fahne würde ich für sowas garantiert in den Bau, also nach Schwedt kommen. Hinzu kommt meine grundsätzliche Neigung, dass ich zu Befehlsverweigerung tendiere, wenn Ansagen politisch motiviert sind.

Da bin ich seit Jahren völlig klar mit mir: Der Westen ist nicht mein Feind. Außerdem spiele ich mit dem Gedanken, den Wehrdienst total zu verweigern, was mich zwei Jahre kosten würde. Deshalb bin ich freiwillig hier.

Und Andi muss aufpassen, wem er die Faust zeigt, wenn sie ihn einziehen. Körperverletzung soll einer der häufigsten Gründe für Schwedt sein. Andi ist geschockt. Dazu fällt mir leider kein Song von Udo ein.

Stattdessen stimme ich einen Kanon an: „In einer kleinen Goldschmiederei / da saßen wir zwei / bei Kupfer und Blei / Du sprachst kein Wort / kein einziges Wort / ich wusste Bescheid / Kriminalpolizei …“. Er kriegt sich wieder ein. Weiter gehts im Bakelit-Programm. Im Osten nichts Neues. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

Matomo