Mittwoch, 29. Februar 1984

Heute ist der längste Tag meines Lebens. Egal für wie lange sie mich verurteilen – bis zu meiner Entlassung wird es einen Tag länger dauern, weil Schaltjahr ist. Na dann mal ran ans Bakelit-Programm und in die Vergangenheit.

Mein großer Bruder wurde 17. Er begann eine Lehre in Aschersleben und kam immer seltener heim. Deshalb hatte ich unser gemeinsames Kinderzimmer seit ich 12 oder 13 war meist für mich allein.

Mein kleiner Bruder schlief im Schlafzimmer seiner Eltern. Eines Abends hörte ich es mächtig scheppern, fluchen und stöhnen. In der Diele war eine Schlägerei im Gang. Die Glasbauwand an der Eingangstür zerbrach. Dann war Ruhe. 

Böses ahnend wollte ich nachsehen. Da kam „Vati“ um die Ecke und fauchte mich tollwütig an: „Der soll sich hier nie wieder blicken lassen!“. Warum er Andi aus unserer Riesenwohnung für „kinderreiche“ Familien (siehe Freitag, 17. Februar 1984) geprügelt hat, weiß ich nicht.

Das machte mich neugierig. Von meinem Cousin Günther erfuhr ich, dass ich mit seinen jüngeren Brüdern drei weitere Cousins in Merseburg habe. Dort lebt seine Mutter, die Schwester meines leiblichen Vaters – den ich (noch) nicht kenne.

Im Oktober 1981 wollte ich es genauer wissen und fuhr in die Stadt, in der ich geboren wurde. Tante Hannchen war tatsächlich da und freute sich riesig.

Sie „adoptierte“ mich wie vor Jahren meinen Bruder, als er in seiner Not zu ihr flüchtete. Jetzt begann ich zu begreifen, was zuhause tabu war.

Günther ist mein ältester Cousin väterlicherseits. Er wohnte wie ich in Halle-Neustadt, weshalb ich ihn als einzigen kannte. Volker ist so alt wie mein Bruder und gerade bei der „Fahne“.

Steffen ist etwas älter und Jens etwas jünger als ich. Sie akzeptierten mich, als würde ich schon ewig zur Familie gehören. Gemeinsam guckten wir Rockpalast mit Mink DeVille bis in die Morgenstunden. 

Zurück ins Bakelit-Programm am längsten Tag meines Lebens. Zur Freude meines Zellenkumpans singe ich „Heute bin ich allein / Ja, auch das muss ab und zu mal sein …“ von Reinhard Lakomy. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo