Mittwoch, 22. Februar 1984

Wir schrauben an unseren Bakelit-Steckern. Da schaut der Kalfaktor rein und hat etwas ganz besonderes in seinem Buchwagen: „Die Stunde der toten Augen“ von Harry Thürk.

Dieses Buch, das ich vor Jahren analog zur Pflichtlektüre „Die Abenteuer des Werner Holt“ von Dieter Noll schon mal verschlungen habe, ist der Hammer.

Deutsche Fallschirmjäger kämpfen gegen die Rote Armee im Hinterland. Extrem spannend geschrieben. Ohne Agitation und Propaganda.

Buchstäblich das blutige Gegenteil von „Der Sozialismus – Deine Welt“, das wir zur Jugendweihe geschenkt bekommen haben. Dogmatischer Sondermüll, den kein Mensch braucht. Apropos Jugendweihe.

Die erhielt ich 1980 in Halle-Neustadt. Für viele Schüler war sie ein Geldsegen. Für mich ein armseliges Besäufnis. Oma Frieda und Tante Vera schenkten mir 100 Mark. Von meinen Eltern bekam ich nichts.

Dabei hatte ich mir so sehr ein Radio gewünscht. Es musste ja kein „Sternrekorder“ oder gar Moped sein, wie manch andere bekamen. Aber ein Kofferradio mit UKW, wie „Vati“ eins hatte – das wär’s gewesen.

Ansonsten zeigten sich meine Eltern von ihrer besten Seite. Es gab reichlich zu essen und vor allem zu trinken, was ich schamlos ausnutzte.

Das Besäufnis geriet außer Kontrolle. Meine Klassenkameraden mussten mich in einer Schubkarre (!) zum Galgenberg nach Halle schleppen.

Dort hatten Verwandte eines Kumpels eine Gartenlaube, in der wir drei Tage und zwei Nächte ausnüchtern konnten. Ob und wieso meine Eltern mich nicht vermisst haben, ist mir ein Rätsel.

Das Jahr meiner Jugendweihe war der Punkt, an dem alles kippte. War ich bis dahin noch eher klein und zahm, schoss ich körperlich so in die Höhe, dass ich mir ständig den Kopf stieß.

Mein Stiefvater lies mich neuerdings in Ruhe. Solange ich ihm beim Bau seiner Datsche in der Nähe von Naumburg half, hatte ich Narrenfreiheit.

Joachim Witt singt mit „Goldener Reiter“ auf den Punkt, wie ich damals drauf war: „An der Umgehungsstraße / Kurz vor den Mauern unserer Stadt / Steht eine Nervenklinik / Wie sie noch keiner gesehen hat …“. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

Matomo