Mittwoch, 15. Februar 1984

Mein 40. Tag in U-Haft. In der Klapper und in dieser Zelle jeden Werktag einen Sack Bakelit-Stecker geschraubt. In jedem Sack ein paar Hundert Stück.

Pro Tag 2,50 Mark verdient. Ohne Abzug von „Kost und Logis“ müssten mehr als 50 Mark auf meinem Konto sein. Zuzüglich weitere 50 von meiner Mutter. Womit wir beim Thema von gestern wären.

„Onkel Rudi“ war ein Angeber, Vortäuscher und Klugscheißer, der uns bei jeder Gelegenheit äußerst geschickt und sehr subtil spüren ließ, wie zurückgeblieben wir „Bankerts“ seiner vermeintlich elitären Herkunft nach waren. Unsere Mutter schien es nicht zu bemerken.

In den wenigen Monaten vor der Einschulung, die ich endlich zu Hause verbringen durfte, wurde mein Bruder mein bester Freund. Er zeigte mir die Stadt, in der ich seit Jahren wohne. Er fuhr mit mir nach Teutschenthal und las mir jeden Abend aus Büchern vor.

Er bastelte mir aus Pappe, Holz und Krimskram miniaturisierte Seilbahnen, Indianerlager und Cowboy Saloons mit Kulissen bis ins kleinste Detail. Nebenbei beobachtete er Vögel, zeichnete fotorealistische Skizzen und schrieb jeden Tag auf, was er gesehen hat.

Eines Tage haute er ab und blieb verschwunden. Warum, weiß ich nicht. Als „Onkel Rudi“ ihn eines Abends erspähte und aus dem Fenster brüllte, dass er sich „ja nach Hause scheren“ soll, schwante mir Böses. So kam es dann auch.

„Onkel Rudis“ Einstand in unsere Erziehung bestand darin, meinem Bruder eine Tracht Prügel zu verpassen, die mich traumatisierte. Andi musste sich im Wohnzimmer vor ihm auf den Boden legen. Mit einem Gürtel bekam er derart Schläge, dass ich vor lauter Angst in die Hosen pinkelte. Unsere Mutter ließ es geschehen.

Wenn Opa Alfred noch leben würde, hätte er „Onkel Rudi“ dafür umbringen lassen. Gelegenheiten für tödliche Unfälle gab es in Buna, wo dieser böse Mann arbeitete, reichlich. Das ist jedoch eine andere Geschichte. Weiter gehts im Bakelit-Programm. Im Osten nichts Neues. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo