Freitag, 3. Februar 1984

Wir schrauben vergnügt an unseren Bakelit-Steckern. Da scheppert es erneut an der Klappe und Obermeister Schäfer schaut wieder mal herein.

Diesmal klingt er gewohnt arrogant, als er mir mit einem erzieherischen Spruch einen Brief durchreicht. Von meiner Mutter:

Lieber Thomas! Deine beiden Briefe haben uns erreicht. Wir können für Deine Handlungsweise kein Verständnis aufbringen. Warum machst Du uns nur immer solchen Kummer?

Mach Dich mit dem Gedanken vertraut, dass sich Dein jetziger Aufenthaltshort so schnell nicht verändern wird – mit oder ohne Anwalt. Wir raten Dir, von Deinem weiteren Vorhaben abzulassen und Deine Verfehlung zu bereuen. Eine solche Haltung, davon sind wir überzeugt, wird Dir das Gericht strafmildernd anrechnen.

Auf das von Dir angegebene Konto werden wir 50 Mark für persönliche Zwecke überweisen. Abschließend lass Dich ermutigen, die nun mal eingebrockte Suppe geduldig auszulöffeln …

Okay, das ist nicht das, was ich lesen wollte. Hier geht es doch nicht um Strafmilderung, verdammt noch mal! Andererseits ist das nicht die Sprache meiner Mutter, die genau weiß, was ich vorhabe. Wahrscheinlich hat mein Stiefvater ihr den Brief diktiert. Dann wären die ersten Sätze eine reine Vorsichtsmaßnahme, um sich selbst zu schützen.

Laut Datum hat meine Mutter den Brief am 23. Januar geschrieben. Zensiert wurde er im Februar. Das geht aus einem Stempel hervor. Im Januar wusste noch keiner, wen ich als Anwalt haben würde. Und wenn schon – meine Mutter hat völlig recht: Kein Anwalt wird meine Verurteilung verhindern.

Wenn sie mir tatsächlich 50 Mark überweist, wäre das ein deutliches Signal der Unterstützung. Bis ich mit 16 ausgezogen bin, habe ich so gut wie nie Taschengeld erhalten. Irgendein Grund fand sich immer, es mir zu verweigern. Bis ich gar nicht mehr danach fragte, weil es mir zu blöd war.

Stattdessen habe ich es mir in den letzten Schuljahren entweder durch Ferienarbeit oder Flaschensammeln verdient. Sonst waren Oma Frieda und Tante Vera die einzigen, die mir regelmäßig etwas Geld zusteckten.

Deshalb bin ich versucht, die 50 Mark tatsächlich als ermutigende Botschaft zu werten, die „nun mal eingebrockte Suppe geduldig auszulöffeln“. Eine versteckte Andeutung in Richtung Wuppertal wäre mir lieber gewesen. Mal sehen, wie sie drauf sind, sobald sie die Wirkung von Rechtsanwalt Vogel zu spüren bekommen.

Andi spürt meine Hin- und Hergerissenheit, nachdem ich den kurzen Brief zum zehnten Mal gelesen, gedreht und gewendet habe. Dann will er mehr wissen, worauf ich mit einem meiner Lieblingszitate von Heinrich Heine (?) beginne: „Ich wurde als Deutscher von Deutschen gefangen, weil ich von Deutschland nach Deutschland gegangen“. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo