Freitag, 27. Januar 1984

Mittwoch und Donnerstag wie gehabt mit Steckern geklappert, saure Luft geschnüffelt und gute Gespräche mit den Jungs gehabt. Heute werde ich beim Hofgang isoliert und mit einer Knebelkette in einen anderen Gebäudeteil geführt. 

Eine Knebelkette ist eine kurze eiserne Fessel, die wie ein Armband am Handgelenk angelegt wird. Sie hat kein Schloss, sondern zwei T-Enden, die ineinander verhakt und von einem Wärter zwischen zwei Fingern gehalten werden. Mit kleinsten Drehungen ist es ihm möglich, mich beliebig zu zwingen. Wenn er will, kann er mir ohne die geringste Anstrengung das Handgelenk brechen.

Er schubst mich in einen Besucherraum. Dort sitzt ein älterer Herr, der auf den ersten Blick wie Opa Alfred, der Vater meines Vaters aussieht. An ihn kann ich mich zwar nur schwach aber sehr angenehm erinnern. Einen kurzen Augenblick keimt Hoffnung auf. Doch er schaut mich finster an.

Sein Name ist Staatsanwalt sowieso. Im Bruchteil einer Sekunde treffen mich Jürgens Worte wie ein Faustschlag in die Magengrube … Wenn er ein Fuchs ist, wirft er mir Vortäuschung einer Straftat vor. Dann wäre ich ein gewöhnlicher Krimineller, was meinen „Fluchtplan“ durchkreuzen könnte. Wenn er ein Betonkopf ist, wird er mich wegen Republikflucht drankriegen. Das wäre die halbe Miete in Richtung Freikauf.

Er holt zu einer akademischen Standpauke aus und labert von Errungenschaften, die ich verraten hätte. Dabei schwadroniert er sich in Rage, während ich mir eine „strahlende“ Zukunft im Chemiebetrieb meiner Eltern ausmale. Im praktischen Unterricht, den wir als Schüler nach Lehrplan in Buna abarbeiten mussten, durfte ich bereits handfeste Bekanntschaft mit dem Rest meines Lebens machen:

Authentische VHS-Aufnahmen von Buna bei Merseburg im Frühjahr 1990

Im Dreck malochen, bis mich der Lungenkrebs holt. Und als braver Prolet genau wie Oma Charlotte und Opa Alfred gleich nebenan leben und kurz vor der Rente sterben, damit sich das Vaterland die Fürsorge sparen kann. Oder wie Oma Frieda und Opa Hans nach 40 Jahren Arbeit endlich in den Westen reisen dürfen – und am besten dort bleiben, damit die Kapitalisten ihre Rente an der Backe haben.

„Let’s go West“ auf einen Zettel zu schreiben und einfach so in den Westen fahren wollen, ist nach Paragraph 213 ein Verbrechen, für das er mich anklagen wird. „Versuchte ungesetzliche Grenzüberschreitung“ wird mit Gefängnis bestraft. Für ihn sind die Ermittlungen damit abgeschlossen. Bis zur Gerichtsverhandlung und lange darüber hinaus werde ich über seine Worte nachdenken können. Er hat also angebissen. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

Matomo