Freitag, 25. Mai 1984

Der Stress ist gigantisch. Überall Lärm. Nirgends Ruhe. Stillgestanden! Marschkolonne. Totale Fremdbestimmung. Keine Zeit für nichts. Ständig Hunger. Unverhohlene Drohungen. Diffuse Angst. Endlose Tage. Kurze Nächte. Alles wiederholt sich:

Aus dem Tiefschlaf gerissen werden, zur Zählung antreten, Betten bauen, flüchtig waschen, gehetzt kacken, im Gleichschritt zum Speisesaal, in Minutenschnelle Essen fassen, zur Arbeit marschieren, Bleche stanzen, die Norm schaffen müssen, nach Einschluss die Piste schrubben, todmüde ins Bett fallen und wieder aus dem Tiefschlaf gerissen werden.

Vor lauter Irrsinn vergessen, dass am Dienstag, 22. Mai Halbzeit war. Nach 137 Tagen und Nächten hinter Gittern noch mal so viele vor mir. Wie pervers bin ich eigentlich, dass ich mir allen Ernstes die gemütlichen Zeiten meiner U-Haft in Greifswald zurück wünsche?

Wenn ich dieses Tempo bis 6. Oktober durchhalten will, muss ich verdammt stark sein. Keine Ahnung, ob ich das schaffe. Nächste Woche soll Olli, der Totschläger aus dem Arrest zurück in unseren Trakt (!) kommen.

Nobl, der geile Bock hat mir deutlich zu verstehen gegeben, wie scharf er auf mich ist: „Ich möchte einmal nur mit Dir „Schanno“ / Oh, oh, oh / Auf einem kleinen Männerklo …“, singt er einen verdrehten Schlager, während er mich mit weit aufgerissenen Augen lüstern verschlingt. Doch dabei bleibt es.

Aus unerklärlichen Gründen umgibt uns eine schützende Aura. Weder Jens noch ich werden ernsthaft angemacht. Selbst Gaby, der kantige Brutalo, vor dem alle Angst haben, mustert uns nur distanziert. Dings und Bums halten sich vornehm zurück.

Als es am Mittwochabend zum ersten Mal unter die Dusche im Keller ging, ist rein gar nichts passiert. 20 nackte Leiber auf engstem Raum.

Ein halbes Dutzend tätowierte Knastbrüder, die nicht zum ersten Mal hier sind. Ein halbes Dutzend stinknormale Erwachsene, die wie gewöhnliche Familienväter aussehen. Ein paar alte Männer. Und ein paar „Junggesellen“ wie Jens und ich.

Keine Seife fällt. Niemand muss sich zum Aufheben bücken. Nur ein paar gierige Blicke. Mein Unterleib bleibt unberührt. Dabei hatte ich mich auf das Schlimmste eingestellt: Wenn mich einer anfasst, werde ich sofort und so brutal wie möglich zuschlagen, auch wenn es mich das Leben kostet.

Lieber einmal tödlich zusammengetreten werden, als den Rest meiner Tage in der Frohen Zukunft „Rammbock“ mit zerfetzter Rosette sein, die hier Miezen und/oder „Votzen“ (mit V) genannt werden. Doch es passiert nichts.

Am Donnerstag haben wir zum ersten Mal unsere 120 Prozent geschafft. Wir durften zum Einschluss mit den anderen in den Schlafraum und ins Bett ohne auf die Piste zu müssen. Das waren mindestens zwei bis drei Stunden mehr Schlaf.

„Keine Sorge – das Schlimmste ist vorüber“, beruhigt uns Rudi. Solange wir unsere Norm schaffen, unsere Betten aufs Karo genau gebaut kriegen, unsere Wäsche im Spint auf Kante liegt, unsere hässlichen Klamotten sauber und unsere abgelatschten Schuhe geputzt sind, wird man uns in Ruhe lassen.

Jetzt kommt es darauf an, mich auf etwas zu spezialisieren, womit ich handeln kann. Zigaretten sind ein guter Anfang. Vorzugsweise „Karo“. Mal sehen, wieviel Geld ich auf meinem Knastkonto habe und was es im Knastladen zu kaufen gibt.

Vielleicht kommen meine Eltern zu Besuch. Wenn sie das tun und mir gegen ihre Prinzipien Kippen mitbringen, wäre das ein verdammt gutes Zeichen, dass sie meinen „Fluchtplan“ unterstützen. Höchste Zeit, ihnen zu schreiben. Hoffentlich werde ich am Wochenende dazu kommen. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 … 

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Matomo