Freitag, 2. März 1984

Erwartungsgemäß unruhig geschlafen. Von Schauprozessen, Freisler und Konsorten geträumt. Die Vorladung zur Gerichtsverhandlung hat mich echt aus dem Takt gebracht. Das darf mir nicht noch mal passieren.

Ein väterlicher Freund wie Jürgen vor ein paar Wochen (siehe Sonntag, 15. Januar 1984) würde mir jetzt gut tun. Meinem Zellenkumpan Andi fehlt die nötige Reife, die es dazu braucht.

In Gedanken versuche ich mir vorzustellen, wie mein leiblicher Vater auf mein „Verbrechen“ reagieren würde, für das ich demnächst verurteilt werde.

Kennengelernt habe ich ihn erst mit 15 oder 16. Ein Freund und ich fuhren auf meiner Jawa Mustang nach Leipzig, wo er wohnt. Er, seine Frau und ihre noch sehr kleine Tochter waren zufällig zuhause.

Es fiel mir schwer, Vater oder gar Vati zu ihm zu sagen, zumal ich einen „Vati“ habe, der zwar ein schlechter aber eben doch mein „Vater“ ist. Wir einigten uns auf seinen Vornamen.

Manfred machte es mir wirklich leicht, mich an ihn heranzutasten. Er interessierte sich aufrichtig für unsere Interessen, das Moped und meinen Sozius. In seinen Fragen und Antworten konnte ich schonungslose Ehrlichkeit und liebevolle Empathie erkennen. 

Ohne dass wir konkret darüber gesprochen hätten, schien er politisch jedoch „auf Linie“ zu sein. Das konnte ich zwischen den Zeilen und zum Teil am Vokabular hören.

Es gab zwar keine verräterischen Hinweise, dass er ein Bonze war. Aber eben auch kein „Rotverächter“ wie mein Stiefvater, was uns bei allen Differenzen durchaus verband – und worauf ich ihn seit meiner Verhaftung ohne Rückfahrkarte teste.

Am späten Nachmittag fuhren wir wieder in Richtung Halle-Neustadt. Auf halber Strecke blieben wir liegen. Die Speichen im Hinterrad fielen heraus. Wir mussten das Moped nach Gröbers schieben und bei irgendwem unterstellen. Per Anhalter ging es den Rest der Strecke heim.

Könnte mein Vater alias Manfred heute bei mir sein, würde ich ihm „Ich war noch niemals in New York / Ich war noch niemals auf Hawaii / Ging nie durch San Francisco in zerriss’nen Jeans …“ von Udo Jürgens vorsingen. Weiter gehts im Bakelit-Programm. Im Osten nichts Neues. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo