Freitag, 11. Mai 1984

Nachdem sich die Schleuse in der „Frohen Zukunft“ hinter uns geschlossen hat, ging es direkt auf unser „Zimmer“ in der Beletage.

Ein heller Raum in der Größe eines geräumigen Klassenzimmers in einem modernen Neubaublock wie in Halle-Neustadt.

Viele Doppelstockbetten. Ein separater (!) Waschraum mit mehreren (!) Waschbecken und Kloschüsseln. Wie im Ferienlager, wenn die großen Fenster nicht vergittert und die Zellentür nicht verriegelt wären.

Wir dürfen einen Brief schreiben. Einen Satz – mehr nicht: „Liebe Eltern! Ich sende Euch aus Halle/S. herzliche Grüße und teile meine Anschrift mit …“.

Einer nach dem anderen werden wir aufgerufen und einem „Erzieher“ in Uniform vorgestellt. Der stellt ein paar Fragen, vergleicht meine Antworten mit seinen Unterlagen und macht sich Notizen.

Danach geht es in die verdächtig freundliche Großraumzelle zurück und es passiert den Rest des Tages so gut wie nichts mehr.

Endlich kann ich mit Jens ungestört reden. Während unseres Transports konnte ich ihn im Beisein fremder Lauscher nicht fragen, was mich am meisten interessiert:

Für welchen Anwalt er sich entschieden und ob er einen Ausreiseantrag geschrieben hat. Er will nicht darüber reden, woraus ich vorsichtshalber schließe, dass sie ihn vielleicht umgedreht haben.

Ob er ein Spitzel ist, werde ich herausfinden, wenn er mich zu bekehren versucht. Gleiches gilt für ihn umgekehrt, da ich ihm ebenso wenig erzähle, wenn er mir nichts erzählt.

Ansonsten scheint er sich wacker geschlagen zu haben. Was er mir über seine U-Haft berichtet, deckt sich mit meinen Eindrücken.

Eine zeitlang haben wir auf einer Etage keine drei Zellen voneinander entfernt gesessen, ohne es zu wissen.

Einmal habe ich ihm am Fenster winken gesehen, während ich Hofgang hatte und umgekehrt. Gebracht hat es nur, dass ich bald darauf in eine andere Zelle verlegt wurde.

Die Kommunikation über Abflussrohre hat spärlich funktioniert, weshalb ich diesen Weg früh aufgegeben habe.

Dazu rüttelt man den Abfluss einer  Kloschüssel mit einer Klobürste leer, bis man sich übers Fallrohr mit anderen „Teilnehmern“ unterhalten kann.

So komfortabel das klingt, so sinnlos ist das Ganze, wenn es um vertrauliche Informationen geht. Egal ob Klopfzeichen oder Klofunk – der Feind hört mit.

Das nützt, wenn überhaupt, nur bei langer Einzelhaft, bevor Selbstgespräche im Wahnsinn enden.

Vom „Verwahrhaus“ gegenüber schallen Rufe zu uns herüber. „Frischfleisch“ und derbe Pöpeleien im Knastjargon wechseln die Seiten. Von witzig bis bedrohlich ist alles dabei.

Dann plötzlich: „Ist Jannot bei Euch?“. Mir rutscht das Herz in die Hose. Keine Ahnung, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen ist. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo