Donnerstag, 8. März 1984

Internationaler Frauentag. Seit 62 Tagen keine mehr gesehen. Noch vier Tage und Nächte bis zu meiner Gerichtsverhandlung. Mal sehen, wer da ist.

Meinem Zellenkumpan Andi spukt meine Story von gestern durch den Schädel. Wie man so bekloppt sein kann, freiwillig in den Knast zu gehen und sich derart auf sein Glück zu verlassen.

Das ist ganz einfach. Weil ich mit der Zone abgeschlossen habe. Für mich gibt es kein zurück mehr. Nur Flucht nach vorn. Glück zu haben, ist für mich eine Frage der Wahrscheinlichkeit, auf die ich Einfluss nehmen kann.

Wäre meine Lage aussichtslos, hätte Rechtsanwalt Vogel abgesagt. Dass meine Eltern trotz aller Differenzen geantwortet haben, ist ein gutes Zeichen. Meine sehr spezielle Art von „Republikflucht“ dürfte selbst meinen Stiefvater imponieren.

So wie er mich beim Bau seiner Datsche gut gebrauchen konnte, wird er mich im Westen noch besser gebrauchen können. Deshalb wird er mitspielen. Davon bin ich überzeugt, weil wir in dieser einen Frage auf einer Wellenlänge sind.

Dass Onkel Werner und Tante Erika in Wuppertal gar nichts tun, sobald sie von meiner „Rosskur“ erfahren, kann ich mir nicht vorstellen. Außerdem gibt es noch Karin, meine Cousine, die eine coole Socke ist (siehe Samstag, 4. Februar).

Seit vielen Jahren trage ich ihre Jeans und T-Shirts. Sie ist zwei Jahre älter als ich. Deshalb passen mir ihre Klamotten. Zuletzt habe ich sie 1980 in Teutschenthal gesehen.

Das weiß ich deshalb so genau, weil im November 1979 „The Wall“ von Pink Floyd herauskam. Als wir Karin baten, uns das Doppelalbum auf Kassette mitzubringen, hat sie es im Jahr darauf getan.

Deshalb muss ich jetzt „Another Brick in the Wall“ singen: „We don’t need no education / We don’t need no thought control / No dark sarcasm in the classroom / Teacher, leave them kids alone …“.

Weil Andi kein Englisch versteht, bringe ich ihm die deutsche Version von einer unbekannten Gruppe namens Vierzehn bei: „Wir sind nicht für Euch geboren / Wie Computer programmiert / In uns’re Köpfe schaut uns keiner / Nein, wir schwimmen nicht mit dem Strom …“. Weiter gehts im Bakelit-Programm. Im Osten nichts Neues. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo