Donnerstag, 31. Mai 1984

Als ich am Dienstagabend wieder zu mir kam, kniete Rudi über mir, der mich ins Leben zurückgeholt hat. Neben ihn kauert der Muskelprotz, der wie ein Geisteskranker grinst.

Das ist Olli, der heute aus dem Arrest zurückgekehrt ist. Er habe nur Spaß gemacht. Nachdem er von meinen Künsten gehört hat, wollte er mir zur Begrüßung einen obligatorischen „Brusthuf“ verpassen, der etwas zu tief gelandet ist.

Leider hat er immer noch nicht begriffen, dass er viel zu stark für diese Welt ist. Vier Jahre wegen Totschlags haben nicht gereicht, ihn daran zu erinnern, dass lebende Menschen keine ledernen Sandsäcke sind.

Sein jüngster Arrest war die Strafe für einen ähnlichen Vorfall, weshalb ich unbedingt meine Fresse halten muss. Dafür würde er Jens verschonen. Einverstanden.

Am Mittwochabend musste ich zu unserem „Erzieher“, der als Oberleutnant in maßgeschneiderter Uniform für unsere Station zuständig ist. Ein verstörend schöner Mann mit strahlend blauen Augen und einem perfekt symmetrischen Gesicht.

Wie kann ein derart gut aussehender Kerl, der ein Mannequin für Cowboy-Unterwäsche im Exquisit sein könnte so einen SS-Job machen?

Vermutlich einer dieser furchtbar klugen Studenten, die auf ihren letzten Metern vor dem Abschluss in Ungnade gefallen sind und sich den Rest ihres Lebens mit voller Leidenschaft der Stasi verschrieben haben.

Was genau gestern vorgefallen ist, will er wissen. Nichts. Warum ich beim Einschluss so derangiert ausgesehen habe, dass er mich lieber auf der Krankenstation gesehen hätte. Derangiert?

Ja, ich musste mal dringend aufs Klo. Bin schneller los, als die geschlossene Zellentür erlaubt hat, die eigentlich offen hätte sein müssen. Das hat mich etwas unglücklich auf die Fliesen gehauen.

Er schaut mich lange prüfend an. Dann fragt er mich, was ich davon halte, meine Schreiberei von Ausreiseanträgen endlich sein zu lassen. Ob es nicht Zeit wäre, meinen zurückzuziehen. Es habe doch sowieso keinen Zweck. Niemand kommt von hier in den Westen.

Absolut nichts, antworte ich. Im Gegenteil. Höchste Zeit, den nächsten zu schreiben, damit niemand vergisst, weshalb ich eigentlich hier bin.

Dann beginne ich meine für solche Gelegenheiten zurechtgelegte Antwort herunterzubeten: Dieser Staat hat alle Chancen gehabt, mich davon zu überzeugen, hier bleiben zu wollen.

Für mich hat sich der Sozialismus erledigt. „Go West / To begin life new / Go West / This is what I’ll do …“, rezitiere ich die herrliche Hymne der Schwulen von Village People (siehe Mittwoch, 1. Februar). Ende der Unterhaltung.

Er lächelt ein wenig. Verlegen? Sympathisch. Kein Vernehmergrinsen. Dann greift er in seine Schublade und übergibt mir einen Brief. Danke, Strafgefangener Jannot, Sie können gehen.

„Halle-Neustadt, 25. Mai 84 / Lieber Thomas! Wir haben Deine Information über die Verlegung nach Halle erhalten. Es scheint, als ergäbe sich daraus auch einmal die Möglichkeit, Dich zu besuchen. Wenn ja, dann lass es uns bitte wissen.

Wir haben das Geld zurücküberwiesen bekommen, das wir Dir nach Greifswald geschickt hatten. Wenn Du uns wieder einmal schreiben kannst, dann schöpfe bitte die Dir zur Verfügung stehenden Silben voll aus! Wir sind alle gesund und grüßen Dich herzlich. Mutti, Vati und …“.

Mir fehlen die Worte. Das ist zwar die Handschrift meiner Mutter. Aber der Stil ist eindeutig mein Stiefvater. Sie distanzieren sich nicht von mir. Keine Belehrungen.

Sie wollen mich sogar in der Hölle besuchen. Und Geld hätten sie auch locker gemacht – was eine Premiere in meinem ganzen Leben wäre.

Wenn ich meine mir „zur Verfügung stehenden Silben voll ausnutzen“ soll, „alle gesund“ seien und mich „herzlich grüßen“, dann haben sie alle versteckten Botschaften in meinen Briefen nicht nur verstanden, sondern auch umgesetzt.

Sie sind in dieser meiner Mission – trotz aller Differenzen – auf meiner Seite. Wenn das keine 90 Prozent beste Chance sind, die ich so gut wie im Westen bin, dann, ja was eigentlich dann? 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo