Donnerstag, 3. Mai 1984

Gestern hat mir „Assi Blaschi“ ein vergiftetes Kompliment gemacht. Dass ich für einen Erwachsenen zwar erhebliche Bildungslücken hätte. Für einen Teenager jedoch erstaunlich gut informiert sei. Woher kommt das?

Bildungslücken sind eine Frage des Fachgebiets, auf das man spezialisiert ist, kokettiere ich verlegen. Meine Spezialität ist das wahre Leben. Das beginnt direkt vor der eigenen Haustür und ist über viele Wege mit noch mehr Türen verbunden, die auf den ersten Blick alle gleich aussehen.

Dahinter gären unglaubliche Geschichten, von denen ich unzählige gehört und manche selbst erlebt habe, wenn ich stundenlang einsame Straßen entlang getrampt bin. Dabei hätte ich mehr als einmal draufgehen können. 

Zuletzt auf der Autobahn von einer Raststätte zur nächsten. Auf einer dieser Brücken mit kryptischer Reklame wie „Plaste und Elaste aus Schkopau“ standen zwei Kinder und winkten. Vor ihren Füßen ein Gegenstand.

„Die werden doch nicht …“, entsetzt sich der Fahrer und steigt voll in die Eisen. Während es mich zum Glück angeschnallt in Richtung Armaturenbrett reißt, explodiert die Windschutzscheibe. Zwischen den Vordersitzen liegt ein Wackerstein, der eben noch auf der Brücke lag.

Während ich nur freundlich winkende Kinder sah, hat der Fahrer ein verdächtig angewinkeltes Bein bemerkt, vor dem etwas lag, was kein Ball war. Sein instinktives Misstrauen hat uns beiden das Leben gerettet. 

Die Moral von der Geschicht‘ – traue Deinen Augen nicht. Die sehen auf den ersten Blick nur, was sie sehen wollen. Schau zweimal hin. Höre genau zu und lerne zwischen den Zeilen zu lesen.

Im Osten gibt es mindestens 16 Millionen Sichtweisen. Im Westen kommen weitere 60 Millionen hinzu. Auf der ganzen Welt sind es über vier Milliarden. Wie können die der oberen Zehntausend die einzig wahren sein?

Das interessiert mich schon rein rechnerisch: 10.000 von 16.000.000 sind 0,0625 Prozent. Weniger als 1 Promille überstimmt mehr als 99,9 Prozent „Arbeiter und Bauern“, die angeblich das Sagen haben. Auch wenn ich so gut wie kein Bildungsfernsehen schaue und Zeitungen äußerst selektiv lese – da geht noch was.

Dazu brauche ich nur Westradio im Allgemeinen und Deutschlandfunk im Besonderen zu hören. Da ich in jüngster Zeit selten bis nie in die Glotze gucken konnte, haben mich wenige Sendungen um so mehr geprägt, die ich so oft es ging intensiv in mich saugte:

Der kosmopolitische „Weltspiegel“ von Dagobert Lindlau, die einzigartigen „Bilder aus Amerika“ von Dieter Kronzucker und Hanns Joachim Friedrichs sowie die frankophilen Reportagen von Peter Scholl-Latour faszinierten mich genauso wie die spannenden Dokumentationen von Jacques-Yves Cousteau und seiner Calypso-Crew.

Mit Abstand am häufigsten habe ich jedoch den Internationalen Frühschoppen von Werner Höfer inhaliert. Diese entspannte Differenziertheit der qualmend debattierenden Journalisten aus aller Herren Länder hat mich derart fasziniert, dass ich jeglicher Ostpropaganda überdrüssig bin.

Der langen Rede kurzer Sinn: Jeder kann einseitig gebildet und zugleich sehr gut informiert sein. Wenn, ja wenn mich buchstäblich wirklich interessiert, was ich im wahrsten Sinne des Wortes tatsächlich zu hören, sehen und lesen bekomme. Das kann vor bösen Überraschungen schützen.

Differenzierte Weltanschauungen sind möglich. Dazu muss ich allerdings mein Hirn einschalten, der Ostergebenheit abschwören und die wenigen Gelegenheiten nutzen, die ich selbst im engsten Osten der Welt selbstbestimmt suchen und auch finden kann. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

💡 Sie haben einen Linkedin-Account? Dann können Sie meinen Newsletter „Der 18-Jährige, der einen Zettel schrieb und verschwand“ abonnieren ✔︎ 

Matomo