Donnerstag, 1. März 1984

Dritter Monat in U-Haft. 55 Tage Knast ohne Urteil. Das sind 1.320 Stunden oder 79.200 Minuten, die mir vom Leben fehlen.

Wir wollen uns gerade auf unsere Bakelit-Stecker stürzen, da schaut der kleine Obermeister Schäfer durch die Klappe. Seine süffisante Arroganz ist kein gutes Zeichen. 

Er zeigt mir ein amtliches Schreiben. Vorladung zur Gerichtsverhandlung am Montag, 12. März. Mein Zellenkumpan ist am kommenden Montag, 5. März fällig, was er vorige Woche erfahren hat.

Montag scheint hier der Tag des jüngsten Gerichts zu sein. Mein Puls explodiert. Das Herz rast. Heftiges Zittern. Zornige Wut. Extreme Unsicherheit. Höchste Durchdrehgefahr. Endloses Kopfkino.

Sie wollen mich also wirklich verknacken. Wegen eines Zettels! Nein, wegen drei Wörtern auf einem Zettel: „Let’s Go West“. Das ist für die Rotfaschisten allen Ernstes der Beweis für ein Verbrechen!

Meine Absicht, mit der Bahn keine zweihundert Meilen westwärts fahren zu wollen, wird in diesem Staat mit wochenlanger Untersuchungshaft und einer Vorladung zu einer Gerichtsverhandlung mit allem Pipapo – Richter, Anwälte, Zeugen und was weiß ich, wer noch im Saal sitzt – quittiert.

Republikflucht ist schlimmer als Mord, soll ein Bonze gesagt haben. „Jetzt krieg Dich wieder ein, Jannot“, höre ich mich sagen. Keine Panik. Ruhig Blut. Ich habe es so gewollt. Doch was, wenn sie mich für immer einsperren und den Schlüssel wegwerfen, rast mein Hirn wieder los.

Andi schaut erschrocken, als ich lauter als sonst Udos „Willkommen zum Grande Finale / Die Erde geht unter, erfahr’n wir soeben / Der Eintritt ist ohne Bezahle / Sie zahlen hier bloß mit Ihrem Leben…“ zu singen beginne.

Anschließend texte ich ihn mit „Sympathie für den Teufel“ zu: „Erlauben Sie, dass ich mich vorstell’ / Ich bin ein Mann von Welt und Stil / Ich gehe um seit einer Ewigkeit / Raube Seelen, kenne kein Gefühl …“.

Am späten Abend muss ich den „Reichsbahnblues“ von Stefan Diestelmann „atmen“, der leider keinen Text hat. Aber er beruhigt mich. Mal sehen, ob ich schlafen kann. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo