Dienstag, 31. Juli 1984

Keine Ahnung, wo ich hier gelandet bin. Drinnen sieht es wie in einem ordinären Knast aus. Kleiner als Magdeburg. Moderner als Greifswald. Älter als die Frohe Zukunft.

Im Erdgeschoss wurde ich ohne laute Kommandos mit drei „Junggesellen“ in eine geräumige Viermannzelle „komplimentiert“. Kein autoritäres „Gesicht zur Wand!“. Nur schweigsame Bestimmtheit.

Links und rechts zwei Doppelstockbetten. Zwischen ihnen, mitten in der Mitte (!) Platz für einen Tisch mit vier Hockern. In der linken Ecke eine Kloschüssel. Rechts ein Waschbecken mit Konsole.

Fast wie in einem FDGB-Ferienheim ohne Kleiderschrank. Nur das undurchsichtig vergitterte Fenster lässt keine Missverständnisse aufkommen.

Die Tür geht zu. Wir verteilen uns auf die Betten. Kein Schließer, der uns aufscheucht. Wir dürfen ungestraft liegenbleiben. Nur rauchen sollen wir „bitte schön“ am Tisch.

Die Versorgung reichlich. Keine rationierte Nahrungsaufnahme im Schweinsgalopp. Ich fühle mich zum ersten Mal seit Monaten gemästet. Mann, wie ich das vermisst habe.

Wir dürfen uns Zeit lassen. Niemand hetzt uns. Das „Personal“ hält sich vornehm zurück. Keine ruppigen Aufseher im Trapo-Blau, sondern höhere Offiziere im Stasi-Grau.

Wir machen uns miteinander bekannt. Drei 213er, ein „Assi“. Keiner älter als 19. Der „Assi“ ist sogar erst 17. Wie geht das denn? Er kann sich nicht erklären, wieso er hier ist.

Niemand weiß, wo wir sind. Harald B. hat eine Vermutung. Das könnte Karl-Marx-Stadt sein. Er kommt aus Berlin. Dort habe er von einem „Vogelkäfig“ auf dem „Kaßberg“ in „Chemnitz“ gehört, wie Karl-Marx-Stadt früher mal geheißen hat.

Wir checken unsere Anwälte. Wir 213er sind Mandanten von Dr. Vogel, „zugelassen auch bei den Gerichten in Westberlin“ (siehe Donnerstag, 2. Februar). Nur der „Assi“ hat keinen.

Das riecht verdammt nach Abschiebung in den Westen. Der „Assi“ fragt, was wir damit meinen. Wir müssen lachen und erzählen unsere Geschichten.

Er wirkt ernsthaft besorgt. Er will nach Hause. Auf gar keinen fall nach drüben. Niemand versucht, ihn davon abzubringen. Das ist allein seine Sache.

Wir „R-Flüchter“ haben alles getan, um es vielleicht zu schaffen. Noch ist alles offen. Wenn das ein Stasiknast ist, dann ist unsere Zelle sicher verwanzt.

Mal sehen, was passiert, sobald sie von unserem verirrten „Assi“ gehört haben. Dann müssten sie ihn jeden Augenblick abholen. Doch nichts passiert.

Egal. Meine einzige Sorge ist, dass die Stasi ein fieses Spielchen mit uns spielt. Mit Schmetterlingen im Bauch „spliffe“ ich mich nach „Bella Italia“:

„Belladonna, ich lad′ dich jetzt zum Essen ein / Mangiare, tu capito? Andiamo / Asti Spumante wird es nicht g’rad' sein / Aber dafür gibt′s schon wieder mal / Spaghetti Carbonara e una Coca Cola“. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 ...
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Matomo