Dienstag, 29. Mai 1984

Im Nachhinein hat sich das Wochenende doch sehr gelohnt. Auch wenn ich keine ruhige Minute für einen Brief an meine Eltern gefunden habe. Dafür durfte ich am Montag einen fetten Lohn für meine praktischen Künste kassieren.

Wer hätte gedacht, dass ich ausgerechnet unter brutalen Schlägern als rudimentär talentierter Texter und Zeichner höchste Anerkennung finde? OK, unter Analphabeten, von denen es im Sozialismus angeblich keine gibt, ist das kein großes Ding.

Aber wie ein Dichter reimen und wie ein Geldfälscher kleine aber feine Details maßstabsgerecht abkupfern zu können, ist ein solides Handwerk, das im Knast Gold wert sein kann, solange es keine bessere Konkurrenz gibt.

Diesen Wert bekam ich gleich am Montag zu spüren. Nachdem ich mich in der ersten Woche mit der schlechtesten Punktschweißmaschine in gefährlicher Sichtweite vom Cheftisch herumquälen musste, wurde ich diesmal an eine andere in einer ruhigen Ecke versetzt.

Diese Maschine ist perfekt eingestellt. Ich muss nur mit halber Kraft treten, um die  kunstvoll geschliffenen und auf Hochglanz polierten Elektroden auf den Bruchteil einer Sekunde genau zum Glühen zu bringen.

Damit werde ich die Norm locker schaffen, ohne mich zu Tode zu stanzen. Zwischen 130 und 150 Prozent sind möglich.

Doch damit nicht genug: Die Werkzeugkisten stapeln sich fast von alleine. Ab und zu legen mir andere Gefangene sogar ein paar hinzu, die sie zu viel produzieren.

Es sei wichtig, leicht über der Norm zu liegen – aber nicht zu viel. 120 Prozent sind das Minimum, damit die Chefs nicht ran müssen. Mehr als 130 Prozent würde jedoch ihre Meister auf den Plan rufen, die Norm weiter nach oben zu treiben.

Meine Qual in der ersten Woche war ein Test. Die Chefs wollten herausfinden, wie ich damit klarkomme und ab wann ich bereit wäre, zu bescheißen, was viele Idioten spätestens nach zwei bis drei Wochen vorhersehbar tun.

Dazu stapeln sie die Werkzeugkisten mit Hohlräumen auf den Paletten, so dass sie beim Abzählen gefüllter aussehen als sie in Wahrheit sind. Zwar fliegt der Betrug eher früher als später auf – aber daran denken die wenigsten Delinquenten, nur damit sie nicht mehr auf die Piste müssen.

Wer seine Norm an dieser Höllenmaschine ohne Beschiss schafft, hat schon mal einen Stein im Brett und wird so bald wie möglich von Frischfleisch abgelöst. Außerdem wollen die Chefs nun nicht mehr, dass ich mich verletze. Mit verbundenen Händen lässt sich schlecht schreiben und zeichnen.

Ich kann mein Glück kaum fassen. Weniger Leistungsdruck macht die stundenlange Zwangsarbeit zwar nicht kürzer, aber erträglicher. So kann ich die verbleibende Haftzeit – noch 130 Tage und Nächte – vielleicht aushalten, wenn, ja wenn das Wörtchen wenn nicht wär.

Am Dienstagabend sitze ich vor einer Zeichnung im Aufenthaltsraum. Weil ich mal pinkeln muss, stehe ich auf und gehe los. Beim Abbiegen auf die Piste versperrt mir ein unbekannter Muskelprotz so groß und breit wie die Zellentür den Weg.

Während ich irritiert zurückweiche, trifft mich eine kopfgroße Faust, hart wie ein Knüppel im Solarplexus. Mir wird schwarz vor Augen. Auf dem Boden japse ich völlig aussichtslos nach Luft. Keine Chance. Meine Atmung ist zu 100 Prozent blockiert. Tödliche Panik. So stirbt man an Erstickung.

Bilder aus glücklichen Tagen ziehen an mir vorbei. Meine Eltern und meine Brüder winken mir zu. Mit einem maschinellen Wummern im Schädel, wie beim Wegdämmern unter Vollnarkose, beginnt Pink Floyd zu spielen: „Goodbye cruel world / I’m leaving you today / Goodbye / Goodbye / Goodbye“. Dann bin ich weg. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo