Global Village and Billy The God

Es ist Sommer 2011. Herrliches Wetter. Der Regenwald wird nicht mehr abgeholzt. Immer mehr Elektroautos beherrschen das Straßenbild. Die Luft in den Städten wird wieder sauberer. Eine schwarzgrünrote Koalition regiert den Staat sozialer, fortschrittlicher und krisenfreier als je zuvor. Jeder Haushalt hat einen Computer, einen multimedialen DFÜ-PC, gekoppelt mit Femseher, Video und dem Rest der Welt.

Doch in einem Land ohne Grenzen, aber mit Millionen kleiner Hoheitsgebiete, beherrschen Softwarekonzerne, Mafiabanden und Lobbyisten ein globales Dorf namens Internet. An nahezu jeder Ecke des Info-Highways Polizeikontrollen. Es herrscht Ausnahmezustand. Ein Tempolimit braucht es nicht. Seit Monaten geht es nur noch im Stop-and-go-Login.

Freitagabend, 18 Uhr. Es regnet. Die Anschaltbox von otto.normal.user@holiday.inn (traditionelle Schreibweisen bürgerlicher Namen wurden zwecks Vereinfachung des Einwohnermeldewesens abgeschafft) zündet atomgesteuert pünktlich auf die Sekunde den Super-Mega-Turbo-Hyper-Pentium im Nachtkästchen des Hotelzimmers. Doch irgendwie blinken die LEDs des externen lSDN-Terminaladapters auf der Frontseite der Schublade des Schlafzimmermöbels diesmal anders. So lange kreiselte die automatische Wahlwiederholung noch nie. Die Standleitung zum digitalen Roomservice ist ebenfalls tot. Im Fernsehen flimmert nicht mal ein Testbild. Beunruhigende Stille.

Langsam kommt Bewegung in die Korridore. Fluchende Männer, aber strahlende Ehefrauen verlassen ihre Zimmer. Traditionelle Kneipen, Theater und Kinos vermelden wenige Tage später die höchsten Umsatzrekorde aller Zeiten. Die können jedoch nie verbucht werden, weil die Kreditkarten nicht funktionieren. Danach bricht die Wirtschaft zusammen. Einige Jahre später findet eine Sonderkommision heraus, daß dieser Super-GAU generalstabsmäßig geplant war. Ein Programmierer namens Billy The Gate suchte irgendwann in den 90ern des vorigen Jahrtausends nach der ultimativen Killeranwendung für seine eierlegende Wollmilchsau namens Windows 95. Er ließ eine unscheinbare Icon-Sammlung in die Oberfläche gruppieren und koppelte die Sinnbildchen einfach an ein scheinbar neues Datennetz namens Marvel.

In Wirklichkeit basierte das neue Network bis zu 90 Prozent auf Internet. Als dann auch noch ein ehemaliger Staatsbetrieb seinen in die Jahre gekommenen Online-Puff dichtmachte und nach einer multimedialen Renovierung mit dem Internet koppelte, liefen die Integer-Variablen in den kamikazeartig aus dem Boden gestampften Einwahlknoten-Computern gleich neben den Mobilfunkantennen über.

Allein in Deutschland starteten an einem verregneten Freitagabend rund 40 Millionen Windows-PCs und beinahe ebensoviele Datex-J-Teilnehmer automatisch per Software-Launcher gesteuerte Datenschleuder-Programme. Kurz zuvor wurden auf einer Computermesse namens Cebit – auf der es 1996 zu einer Massenhysterie mit mehreren hundert totgetrampelten Menschen kam und die deshalb dezentralisiert wurde – unzählige Benutzergutschriften für bereits besiegte, gerade sterbende und neue Online-Dienste mit Intemet-Anbindung verschenkt.

Schuld war niemand. Der Regierende Bürgermeister der Hauptstadt Berlin war froh, keine neuen Bürgerinitiativen mehr vor seinem Rathaus demonstrieren zu sehen, sondern sein Metropolis per Glasfaserpisten an den globalen Super-Information-Highway anbinden zu können. Der Bundeskanzler und seine Ministerpräsidenten brauchten keine Leibwächter mehr, weil sie aus ihren verbunkerten Domizilen heraus mit ihren Wählern viel persönlicher chatten konnten als bei obligatorischen Besuchen auf dem flachen Land.

Irgendwo auf einer Ranch, tief im Westen der Vereinigten Staaten, lacht sich Billy The Gate ins Fäustchen. Endlich ist das Internet besiegt und der Weg frei für sein eigenes globales Network. Die NT-Maschinen stehen längst bereit. Und die meisten Satelliten hoch oben im Orbit gehören seiner Frau. Sämtliche Künste der Welt sind bereits eingekauft und digitalisiert. Jetzt braucht er die Massen nur noch ein einziges Mal für sein Betriebssystem zu begeistern. Und da es für ihn nichts mehr zu verdienen gibt, weil er ohnehin schon alles hat, entschließt er sich als Christ, den in Konkurs gegangenen Telefongesellschaften bei der Entsorgung ihrer überflüssig gewordenen Kabelstränge zu helfen. Fortan nennt er sich Billy The God.

PS: Dieser Beitrag ist eine 1:1-Abschrift nach alter Rechtschreibung. Das gedruckte Original erschien im März 1995 in PC-ONLiNE 4/1995.

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Matomo